Trotz Herausforderungen ein selbstbestimmtes Leben führen


Prof. Dr. Leonhard Thun Hohenstein leitet die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Salzburg. Im persönlichen Gespräch erzählt er von den Herausforderungen, die auf Familien zukommen, wenn ein Kind erkrankt, von Phasen der Krankheitsbewältigung und dem stärkenfokussierten Umgang mit einer chronischen Erkrankung.

 

Wenn ein Kind körperlich oder psychisch erkrankt, ist das ganze Familiensystem betroffen. Was brauchen Familien in solchen Ausnahmesituationen?

Ich denke da an die Phasen der Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross: Erst kommt der Schock, dann der Widerstand, die Trauer und schließlich die Akzeptanz. So eine Herausforderung bringt immer auch eine psychische Irritation mit sich. Damit diese Irritation kein zerstörerisches Ausmaß erreicht, brauchen Betroffene Unterstützung. Das soziale Netz muss aktiviert werden – wer kann helfen, den Alltag zu bewältigen? In der Schockphase braucht es Menschen, die da sind, die zuhören, die Aufgaben abnehmen – dies sind meist Bekannte und Verwandte. In Kliniken wäre es ebenso wichtig, den Familien möglichst viel Zeit zu schenken. Die Realität sieht leider oft anders aus. Doch der Trend geht in die richtige Richtung, der zwischenmenschliche Aspekt wird auch in Kliniken immer wichtiger.

Wo kann das Helfersystem konkret Hilfe leisten?

Allen voran wird geklärt, ob eine existenzielle Bedrohung besteht. Wir erleben das häufig bei Selbstständigen und Alleinerziehenden – wenn ein Elternteil nicht mehr erwerbsfähig ist, weil er sich um das kranke Kind kümmern muss. Das kann schnell zur finanziellen Bedrohung führen. Wenn es hier an der Basis fehlt, sind Familien zusätzlich belastet. Hier gilt es das Sozialsystem zu aktivieren und den Eltern beim Zugang zu diesem zu helfen.

Wie können Ärzte und Pfleger im Krankenhaus Kinder und Eltern unterstützen?

Die Aufgabe von Profis ist es, die Familien bestmöglich zu informieren und sie menschlich zu begleiten. Es ist für die Betroffenen ganz wichtig, über ihre Situation reden zu können. Ein offenes Ohr tut so gut, leider bleibt dazu im Krankenhausalltag oft viel zu wenig Zeit.

Eine Diagnose ist immer ein Schock. Nach der Schockphase kommt die Phase des Widerstandes…

… und der Verleugnung. Ist ein Kind von Krebs betroffen und braucht es eine Chemotherapie, passiert es immer wieder, dass Eltern diese nicht wollen. Das ist eine nachvollziehbare Reaktion. Hinter dieser Verweigerung der Therapie steckt ganz oft eine Verweigerung der Erkrankung. Es ist eine durchaus nachvollziehbare Reaktion, wenn Eltern nicht akzeptieren können, dass gerade ihr Kind von einer schweren Krankheit betroffen ist. Man will nicht wahrhaben, dass so etwas dem eigenen Kind passiert.

Welche Rolle spielen Außenstehende in der Trauerphase?

Wenn die Trauer auch in der Umwelt ihren Platz findet, wird sie real. In der Trauerphase brauchen Eltern und Kinder genügend Raum. Es tut ihnen gut zu spüren, dass sie wahrgenommen werden und man ihnen zuhört. Da sitzt eine Mutter dann einfach mal 30 Minuten lang da und weint aus Kummer und Leid. Das ist ein zutiefst menschliches Verhalten. Dann kommt langsam das Gefühl auf, dass man verstanden und ernst genommen wird.

Welche Phase kommt nach der Trauerphase?

Die Phase der Akzeptanz und der Lösungsorientierung. In dieser Zeit gelingt es langsam, wieder aktiv zu werden und den eigenen Umgang mit der Krankheit zu finden. Dabei ist die Selbstbestimmung ein hohes Ziel. In unserem Medizinsystem ist es leider schwer umsetzbar, doch wir versuchen stets ein partizipatives Behandlungskonzept auf Augenhöhe gemeinsam mit den Familien zu entwickeln. Dies ist für die Selbstwirksamkeit sehr wichtig und stärkt alle beteiligten Familienmitglieder.

Wie beeinflusst die Gesellschaft das Bild vom erkrankten Kind?

Die jeweiligen gesellschaftlichen Anschauungen spielen eine sehr große Rolle. So wie die Gesellschaft Gesundheit und Krankheit definiert, so erleben die Betroffenen sich selbst. Da passieren viele Stigmatisierungen, unter denen die Betroffenen zusätzlich zu ihren körperlichen Beschwerden leiden.  Wer gibt zum Beispiel vor, was eine Behinderung ist und was nicht? Warum wird ein Mensch als mangelhaft empfunden, wenn er von einer Erkrankung betroffen ist? Ich wünsche mir mehr Normalisierung statt Hysterie. Wir versuchen in der Klinik auch immer, die Familien beim Externalisieren der Erkrankung zu unterstützen. So, dass sie erkennen: Mein Kind leidet unter einer Krankheit oder hat ein Problem, mein Kind ist aber nicht das Problem oder diese Erkrankung. Das macht einen großen Unterschied.

Mit welchen Sorgen haben Eltern zu kämpfen, deren Kind von einer chronischen Erkrankung betroffen ist?

Neben der großen Ungewissheit, wie die Zukunft aussieht und wie sich der Gesundheitszustand des Kindes entwickeln wird, leiden viele Eltern unter Selbstvorwürfen: „Bin ich schuld an der Erkrankung?“ Dieses Gefühl ist immer auch mit Scham verbunden. Hauptproblem ist die Integration der Erkrankung in den Alltag nach dem Motto: größtmögliche Selbstwirksamkeit bei bester Begleitung des Krankseins.

Wie gelingt es, mit einer so großen Herausforderung gut umzugehen?

Die Frage ist, inwieweit Eltern und Kinder es schaffen, die Erkrankung als Herausforderung, die das Leben stellt, anzunehmen. Gelingt es, die Krankheit in das Familienleben zu integrieren? Gibt es Ressourcen in der Familien und im Individuum, um die kleinen Momenten des Alltags positiv und schön erleben zu können? Wenn dieser Perspektivenwechsel möglich ist und Familien erkennen: “Unser Kind ist mehr als die Krankheit“, haben Familien einen großen Schritt geschafft. Die Kleinigkeiten im Alltag, die kleinen Freiheiten, die man trotz der Erkrankung entdeckt, sind sehr hilfreich und unterstützen auch die Krankheitsbewältigung.

Es geht also darum, ein Stück weit Normalität in den belasteten Alltag zu bringen?

Ja genau. Dies kann etwa in Form von Freundschaften passieren oder in dem Entschluss, sich als Eltern wieder Zeit füreinander zu nehmen. Im Alltag der Erkrankung ist dies kaum mehr möglich, doch umso wichtiger ist es, das eigene Netzwerk zu aktivieren, um sich Freiräume zu schaffen. Wenn die Akutphase vorbei ist, spüren Betroffene oft erst, wie schwach ihre eigenen Energiereserven geworden sind. Ich denke genau für diese Phase ist eine Einrichtung wie die Sonneninsel so wichtig und unterstützend.

Für Kinder und Jugendliche ist es schwierig, in der Schule und im Freundeskreis mit ihrer Erkrankung zu leben. Was raten Sie Betroffenen?

In der Klinik versuchen wir, unsere jungen Patienten zu stärken und ihre individuellen Ressourcen zu aktivieren. Wenn ein Kind oder Jugendlicher lernt, dass es trotz aller Herausforderungen ein selbstbestimmtes Leben führen kann – im Rahmen seiner Möglichkeiten – dann kann der junge Mensch mit einer guten Basis erwachsen werden.

 

Familie ist für mich …

… ein mehrgenerationale, in erster Linie blutsverwandte Ansammlung von Erwachsenen und Kindern in verschiedenen Entwicklungsstufen, die einerseits über die Verwandtschaft, andererseits emotional verbunden ist.

… eine Gemeinschaft zur Bewältigung der Aufgaben des Lebens.

 

 

 

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